Experten-Interview mit Jürg Weber – CEO der aclevion AG
Jürg, du bewegst dich mit deiner Arbeit nun schon seit über 20 Jahren im Themenfeld rund ums Product Information Management. Was hat sich im Laufe dieser zwei Jahrzehnte verändert?
Um mit wenigen Worten das Wichtigste vorwegzunehmen: die Bedeutung, Komplexität und Anwendungsvielfalt von PIM-Lösungen. Da bewegen wir uns heute auf einem ganz anderen Level als noch vor 20 Jahren. Ehrlich gesagt habe ich damals gar nicht damit gerechnet, dass es eigenständige PIM-Systeme heute überhaupt noch geben würde. Bei meinen ersten intensiveren Berührungspunkten mit dem Thema war ich noch auf Kundenseite und damit betraut, ein funktionierendes PIM aufzubauen. Zuerst haben wir gedacht, wir nutzen einfach die frisch eingeführte SAP-Software in Verbindung mit dem SAP-eShop um die nötigen Prozesse abzubilden. Und mussten bald feststellen: Das System bietet gar nicht die adäquaten Möglichkeiten, um Nicht-Stammdaten sinnvoll und effizient zu verwalten. Wir konnten die Daten hier nicht ausreichend gut strukturieren und auch die Veredelung und Pflege waren nicht stimmig umsetzbar. Also führten wir eine PIM- und Publishing-Lösung ein – noch sehr rudimentär im Funktionsumfang – wenn man es mit heute vergleicht. Aber damals passend zu den Herausforderungen, die uns und andere Unternehmen beschäftigt haben. Eine gute Sache, jedoch vorübergehend, dachte ich. Schliesslich würden die ERP-Anbieter den Bedarf sicher schnell erkennen und ihr Angebot schrittweise um alle benötigten Features erweitern. Eine zusätzliche Softwarelösung wäre damit bald schon wieder obsolet.
Die Entwicklung war dann eine ganz andere: PIM-Lösungen haben sich zu mächtigen Systemen weiterentwickelt, die ganze Software-Landschaften zusammenhalten und es uns inmitten grosser Datenmengen weiterhin erlauben, den Überblick zu behalten und effizient mit all diesen Informationen zu agieren. Die meisten ERP-Systeme dagegen können immer noch nur sehr bedingt mit den Anforderungen des heute üblichen Multichannel-Publishings umgehen. Und wenn wir genauer hinschauen, ist diese Trennung aus heutiger Sicht auch absolut sinnvoll und stimmig, da es sich um zwei unterschiedliche Disziplinen handelt, die sich durch die Anforderungen ständig neuer Kommunikationskanäle immer stärker voneinander differenzieren.
”PIM-Lösungen haben sich zu mächtigen Systemen weiterentwickelt, die ganze Software-Landschaften zusammenhalten und es uns inmitten grosser Datenmengen weiterhin erlauben, den Überblick zu behalten und effizient mit all diesen Informationen zu agieren.
Jürg WeberCEO
Was genau macht diese starke Weiterentwicklung der PIM-Lösungen aus, die du gerade skizziert hast?
Im Gegensatz zum ERP-System ist die PIM-Lösung genau darauf ausgerichtet, grosse Mengen an Produktdaten an einem gemeinsamen Ort zu versammeln, sie so jederzeit zugänglich zu machen, sinnvoll zu strukturieren, effizient und zielgerecht anzureichern und mit minimalem Aufwand und direkt im passenden Format an die Publishing-Kanäle weiterzuleiten. Ohne PIM ist das heute kaum möglich, sobald das eigene Produktportfolio eine gewisse Grösse erreicht hat. Immerhin hat die Menge an Informationen und Formaten in den letzten zwei Jahrzehnten massiv zugenommen – und überhaupt ist die Marketingwelt um ein Vielfaches komplexer geworden. Gute PIM-Systeme sind hier mit den Herausforderungen gewachsen und bilden all das ab, was es auf dieser Ebene braucht, um erfolgreich am Markt aufzutreten. Mit Cloud-Zugänglichkeit und zahlreichen Automatisierungsmechanismen, bis hin zu KI-Anwendungen, die beispielsweise Produkttexte erstellen oder die Verschlagwortung von Bildmedien übernehmen können.
Der weitreichende Wandel im Marketing spiegelt sich auch im Selbstverständnis der PIM-Anbieter: So spricht man heute immer häufiger von PXM (Product Experience Management), weil es längst nicht mehr nur darum geht, Produktinformationen effizient zu verwalten. Vielmehr haben all die Daten einen zentralen Zweck: das Produkt mit konsistenten, also stimmigen, zueinanderpassenden Informationen und Eindrücken so gut wie nur irgendwie möglich über die verschiedensten Vertriebs- und Marketing-Kanäle hinweg erfahrbar zu machen und damit zum Kauf anzuregen.
Und wie kommt es, dass du deine Ansicht geändert hast? Warum ist es gut, dass ERP und PIM weiterhin eigenständig existieren und sich zwar gegenseitig zuarbeiten, aber eben nicht in die vollständige Symbiose gehen?
Natürlich hätte ein holistisches System pragmatische Vorteile. Doch sobald wir uns das im Detail anschauen, wird es schon heikel: Schliesslich bildet das ERP-System im Kern alle wichtigen Geschäftsprozesse ab und symbolisiert damit den Maschinenraum des Unternehmens. Bei zu vielen und zu komplexen Prozessen über diese Kernfunktion hinaus kann es zur Überlastung des Systems kommen oder zumindest zu Performance-Einbussen, sodass wichtige Aufgaben möglicherweise ins Stocken geraten oder es gar zu Instabilitäten kommt. Gleichzeitig enthält ein ERP-Maschinenraum äusserst sensible Businessdaten. Wir müssen uns also genau überlegen, wem und an welchen Stellen wir wirklich einen Zugang zu diesem empfindlichen System erlauben möchten – während einer der grössten Vorteile von PIM-Lösungen ja gerade in den vielen Anbindungsmöglichkeiten zu verschiedensten Plattformen sowie den Systemen unserer Geschäftspartner besteht. Mit zwei eigenständigen Systemen, die dafür aber gut abgestimmt und bilateral kommunizieren, wahren wir Stabilität, Sicherheit und profitieren zugleich von den jeweiligen Stärken aus beiden Welten.
Darüber hinaus sind die Anforderungen und Abhängigkeiten im heutigen Multi-Channel-Publishing sehr vielschichtig und haben immer mehr zu Spezialisierungen unter den PIM-Anbietern geführt. Diese bereits bestehende Bandbreite auch noch mit den unterschiedlichen Anforderungen an ERP-Systeme zusammenzubringen – eine müssige bis unmögliche Aufgabe, die kaum Vorteile bieten würde.
”Im Gegensatz zum ERP-System ist die PIM-Lösung genau darauf ausgerichtet, grosse Mengen an Produktdaten an einem gemeinsamen Ort zu versammeln, sie so jederzeit zugänglich zu machen, sinnvoll zu strukturieren, effizient und zielgerecht anzureichern und mit minimalem Aufwand und direkt im passenden Format an die Publishing-Kanäle weiterzuleiten.
Heute gibt es eine ganze Reihe von PIM-Anbietern, die sich im Aufbau und Funktionsumfang teilweise sehr stark unterscheiden. Wie wichtig ist es, sich ganz bewusst dem Auswahlprozess zu stellen und bei der Entscheidung ganz genau abzuwägen?
Ungemein wichtig! Führen wir uns dafür einmal die Dimensionen vor Augen: Mit der Einführung einer neuen Software, die wie das PIM Kernaufgaben der täglichen Arbeit im Fokus hat, trifft man als Unternehmen eine langfristige Entscheidung. Fällt die Entscheidung dabei für ein System, das die konkreten Anforderungen im Unternehmen nur bedingt abdeckt oder sich nicht stimmig mit der Arbeitsweise im Team vereinen lässt, bedeutet das entweder starke Kompromisse eingehen zu müssen, die auch die Effizienz und Mitarbeitendenzufriedenheit beeinflussen. Oder eben den erneuten Wechsel mit all den Kosten und Aufwänden in Kauf zu nehmen. Die gute Nachricht ist: Mit einer sorgsamen Evaluation vorab und professioneller Unterstützung bei der Auswahl tendiert dieses Risiko gegen null. Es gibt grossartige Lösungen am Markt für nahezu jedes Szenario; bei Bedarf mit vielen Individualisierungsmöglichkeiten.
Übrigens, bei allem Verständnis für das Zögern, das wir oft bei Unternehmen beobachten: PIM ist nichts, was sich auf die lange Bank schieben lässt. Sonst holt dich das Thema früher oder später zwangsläufig ein und du hast bis dahin bloss jede Menge wertvolle Zeit verschenkt. Ausserdem bietet die proaktive Auseinandersetzung eine der besten Möglichkeiten, um sich auf kommende Herausforderungen einzustellen – wie die weiterhin wachsenden Anforderungen an die Produkt-Experience oder Themen wie der Digitale Produktpass, der ab 2027 vorgesehen ist.
Was ist also dein Rat an Unternehmen, die sich hier zukunftssicher aufstellen möchten?
Möglichst schnell damit beginnen, die aktuelle Situation im eigenen Unternehmen zu erfassen: Was ist mit dem aktuell genutzten ERP heute und in Zukunft möglich? Sind die heutigen Strukturen und Prozesse für die Verwaltung und Steuerung aller relevanten Produktinformationen passend und effizient? Und gilt dies auch für die Zukunft – gerade mit Blick auf die notwendigen Kommunikationskanäle?
Oft bekommen wir von Unternehmen die Rückmeldung, dass sie in den nächsten Jahren zunächst mit der Einführung oder Evaluierung eines neuen ERP oder eShop beschäftigt sind und das Thema PIM erst danach angehen werden. Bei klar budgetabhängigen Situationen muss man das so hinnehmen. Andernfalls würde ich immer auch eine parallele oder gar vorzeitige Einführung der PIM-Lösung in Betracht ziehen, weil eine sauber strukturierte, sorgsam bereinigte und qualitativ hochwertige Produktinformationslandschaft mit effizienten Prozessen und hoher Verfügbarkeit für die Multichannel-Delivery genauso businessrelevant ist und daher nicht zu lange aufgeschoben werden sollte. Ausserdem lassen sich hier am schnellsten Erfolge erzielen: Während eine ERP-Einführung mehrere Jahre andauern kann und die Integration einer eShop-Lösung ca. 1 – 2 Jahre, lässt sich eine PIM-Einführung heute in einem Zeitfenster von ca. 6 – 12 Monaten und gegebenenfalls noch schneller realisieren. Dazu kommt, dass ein bereits vorhandenes PIM-System die Einführung eines ERP-System oder eShops positiv beeinflusst, weil alle Produktinformationen bereits aufgearbeitet sind und die volle Verfügbarkeit sichergestellt ist. Es ist also absolut sinnvoll, erst die konkrete Situation sowie kurz- und langfristige Chancen zu analysieren und dann die Prioritäten entsprechend zu setzen.